Lieben Sie Schumann? - Christian Gerhaher im Gespräch mit dem Musikjournalisten Christoph Vratz über seine Liebe zu Schumann

Autorisierte Mitschrift

Mizuka Kano (©Rolf Obrecht)
Mizuka Kano (©Rolf Obrecht)


Christoph Vratz:
Ja, meine Damen und Herren. Da waren gerade sozusagen die beiden Jubilare des letzten und diesen Jahres wunderbar vereinigt: Franz Liszt und Robert Schumann. Wobei, Herr Gerhaher, eigentlich das Werk Ihnen ja ein Dorn im Auge sein müsste, weil mit dieser Liszt-Transkription [von Mizuka Kano gespielt wurde Robert Schumanns „Widmung“ in der Transkription von Liszt] bleibt Ihnen ja nichts mehr zu tun. Ihre Stimme ist eliminiert und Liszt hat es sich ja auch nicht nehmen lassen, das Ganze ein bißchen – naja – pianistisch so weit zu überhöhen, dass allenfalls die Grundmelodie erhalten bleibt.

Christian Gerhaher: Zwar ungewöhnlich vielleicht, verstehen’s, dass ich das sag’, dass diese Arpeggien nicht ganz so nach Schumann mehr klingen, aber dann – es gibt ja häufig genug bei Schumann Musik, die nicht wirklich den Text hören lässt, aber in der man ihn mitdenkt. Was mir doch gleich wieder auffiel: Ich habe das Gefühl, es geht bei Schumann immer nicht nur um Musik, sondern um Dinge, die mit Musik erreicht werden, ganz bewusst aber den musikalischen Horizont überschreiten.

CV: In welcher Richtung überschreiten?
ChG: Ja, das ist natürlich die Frage. Ich habe heute mich natürlich vorzubereiten versucht. Ich habe ein Zitat in einer Biografie gefunden, wo Schumann folgendes sagt, über Schubert oder vielleicht meint er auch gar nicht Schubert, sondern die davor. Das Zitat lautet: „So entstand jene kunstvollere und tiefsinnigere Art des Liedes, und ums Lied geht es mir natürlich besonders, von der natürlich die früheren [Komponisten] nichts wissen konnten, denn es war nur der neue Dichtergeist [...]“.
„Nur“ der neue Dichtergeist ist, find’ ich, natürlich bemerkenswert. Der Dichtergeist ist natürlich etwas ganz entscheidendes in Schumanns Leben.

CV: Würden Sie dem zustimmen?

ChG: Was Schubert anlangt, ich...

CV: Schumann. Sie meinen, wenn Sie es auf Schubert beziehen,
würden sie dem nicht unbedingt zustimmen.

ChG: Geht vielleicht ein bißchen weit. Ich weiß nicht, warum – er hat sich ja vielfach über Schubert positiv geäußert – warum er das, seine Lieder betreffend, nicht getan hat.

CV: Inwieweit würden Sie denn sagen, dass Schumann Schuberts Erbe – und das Liederbe ist nun einmal ein Koloss in der Gesamtheit betrachtet –, weitergeführt hat bzw., wo hat Schumann Möglichkeiten für die Gattung Lied entdeckt, die Schubert so noch nicht auskosten konnte?

ChG: Es gibt bekannte Dinge – das in seinen Liedern viel mehr noch die Klavierkunst Betonende, mit den großen Vor- und Nachspielen, mit auch Reflexionen über das Vorhergehende, schon durch Gesang Gesagte, aber ich würde erst noch auf ’was anderes eingehen wollen. Ich glaube, dass man Schumann so etwas wie eine gewisse konzeptionelle Neigung zuschreiben könnte, was man über Schubert vielleicht nicht tun kann. Schubert ist der Liedkomponist – der erste wichtige und vielleicht auch der wichtigst gebliebene Liedkomponist, da ist eigentlich kein großer Zweifel dran – und trotzdem bei Schubert habe ich das Gefühl, es geht eher um eine interpretatorische Eindeutigkeit, die er in seiner musikalischen Annäherung an ein zugrundeliegendes Gedicht sucht.

CV: Ja, aber dass das bei Schumann nicht der Fall ist, liegt auch ein bißchen im Zeitgeist verwurzelt, der ja mehr zur Offenheit auch hin tendiert. Das zeigt ja auch Schumann mit seinen zum Teil ausgewählten Textvorlagen; beispielsweise Heine, der ja nun als Inbegriff des Doppelgültigen gelten kann in seiner Ironie. Was hat das eigentlich, diese Ironie für Sie als Sänger für Konsequenzen?

ChG: Also...

CV: Es ist ja ein relativ schmaler Grat, wenn sie überzeichnen, dann ist es Satire im 21. Jahrhundert, so wie es nicht sein soll. Und wenn sie es zu fad machen, dann sagt sich jeder: Ja Moment, wo ist denn hier jetzt der ironische Unterton.

ChG: Also, ich finde, dass das Problem der Ironie bei Heine ein zu groß geschriebenes ist in Bezug auf Schumann. Ich denke, die Textgrundlagen, die er für seine Heine-Vertonungen wählt, sind eigentlich allesamt keine hochironischen Vorlagen, wie sie beispielsweise Vesque von Püttlingen wählt. Er hat ja auch keinen Atta Troll oder ähnliches vertont.
Es sind einfach große Unterschiede, die man hier schon bei der Textauswahl ausmachen kann, zu der sonstigen Heine-Rezeption. Schumann auch zu unterstellen, dass er die Ironie Heines nicht adäquat in seiner Vertonung darstellen würde bzw. sie eventuell gar nicht wirklich selbst rezipiert haben würde, finde ich nicht nachvollziehbar. Ich denke, die Ironie bei Heine ist auch nur ein Teil seiner Dichtung. Es ist nicht so, dass man Heine doch reduzieren dürfte auf die Ironie. Natürlich benutzt er sie. Aber er drückt auch genügend, häufig genug, Sehnsüchte in seinen Gedichten aus, wie andere Dichter es auch tun. Also, wenn wir an die „Myrthen“ denken - „Du bist wie eine Blume“, dann ist es natürlich ein Gedicht, das mit Heiterkeit irgendwo spielt und trotzdem steht hinter diesem Gedicht doch eine großartige Sehnsucht - die Sehnsucht, einem Menschen näher kommen zu wollen, und vielleicht auch frustriert zu sein, dass es aber eben genau so wenig möglich ist, wie einer Blume, die man schön findet, wie einer Blume näher kommen zu können. Man kann sie natürlich anfassen. Man kann sie darüber auch kaputt machen. Aber man kann ein Objekt der Sehnsucht nicht wirklich begreifen, angreifen. Ich finde, das ist das wesentlich Entscheidende an diesem Gedicht und nicht diese leise Ironie, die mitspielt.

CV: Aber da ist ja schon auch in dem Lied etwas enthalten, das bei Heine im Grunde auch immer wieder auftaucht. Nämlich das in geschützten oder gefühlten 95 % seiner Gedichte am Ende immer ein plötzlicher Umschwung stattfindet. Am Anfang ist alles heiter und rosig und man könnte ahnen, diese Hoffnung geht positiv aus, aber spätestens in der letzten Strophe kippt das Ganze dann und es nimmt einen entweder bittersüßen oder vielleicht sogar tragischen Ausgang, Enttäuschung etc.
Spielt das für Sie, diese Tatsache, als Interpret eine Rolle, wenn Sie ein Stück erarbeiten, dass sich sozusagen gerade im Fall Schumann/Heine von hinten aufrollt?

ChG: Mmh..., wie ich ein Stück erarbeite, ist ja noch ganz anders. Das ist ein bißchen kompliziert. Es ändert sich. Aber ich spüre, dass Sie eine große Neigung haben, die Ironie Heines als wesentlich für Schumanns Werk zu betrachten, ob sie nun erfüllt ist oder nicht. Vielleicht täusch’ ich mich auch, ich hoffe es, denn ich bin der Meinung, es ist nicht so wichtig. Und, weil Sie sagten, Heine charakterisiert für Schumann eine andere Zeit als für Schubert, eine andere Dichterzeit. Das würde ich doch auch mit einem gewissen Zweifel auffassen wollen. Denn, also Schubert hat auch ’mal Heinelieder vertont und er hat auch bei Wilhelm Müller einen gefunden, der als Dichter nun von Heine explizit als Vorgänger aufgefasst wurde. Ironie ist ja nicht etwas, was Heine erfunden hat.
Ich glaube, auch Schubert hat manchmal versucht, sich von dem reinen Formgebilde eines Musikkunstwerkes gedanklich zu distanzieren. Ich glaube, da gibt’s zwei Werke im Liedbereich: Es ist die Winterreise und es sind die Heine-Lieder aus dem Schwanengesang, bei denen. . .

CV: Wobei die ja auch als Spätwerke bezeichnet werden.

ChG: Nun ja, er hat aber auch die Rellstab-Lieder im Schwanengesang gleichzeitig...zu gleicher Zeit geschrieben, und sein letztes Lied war die „Taubenpost“, das man fast auch als „Taubenpest“ bezeichnen kann, in seiner Seligkeit. Ich glaube, es ist nicht von der Hand zu weisen, dass auch Schubert manchmal vielleicht versucht hat, sich von einem Werk gedanklich noch ein anderes Bild zu machen als es, an sich, als Kunstwerk für sich stehend, dastehen zu lassen. Aber ich glaube, es charakterisiert Schubert nicht als Komponist, es ist ein kleiner Teil, der vielleicht noch in seinem Leben auftaucht. Bei Schumann will ich es unbedingt sehen. Ich möchte nur ein paar Beispiele nen- nen. Schumann hat ja nicht nur Heine vertont, und von anderen ironischen Gedichten weiß ich jetzt nicht so viel.

CV: Ach, lassen wir doch jetzt die Ironie mal beiseite.

ChG: Doch, es ist wichtig. Denn warum sollte man sich das erzählen von einem Werk, mit dem man inspirativ zu tun hat. Warum sollte man versuchen, noch einen weiteren als einen musikimmanenten Sinn und Zweck zu erfüllen als Komponist.

Christop Vratz und Christian Gerhaher (©Rolf Obrecht)
Christop Vratz und Christian Gerhaher (©Rolf Obrecht)


Ich möchte Beispiele nennen, in denen ich glaube, dass so etwas vorhanden ist. Zwei kleine Liedzyklen. Ich glaube, fast jedes Lied-Opus Schumanns hat einen zyklischen Charakter im Sinne des „Aufgeführtwerdens“. Es soll also nicht als völlig leblose Basis benutzt werden – dass man nur sagt: „Ach’, die ,Widmung’ ist so schön, die nehm’ ich raus. Und dann...“

CV: Nein, natürlich nicht...

ChG: Also das geht bei Schumann überhaupt nicht. Bei Schumann muss man meiner Ansicht nach unbedingt die Opera gesamt aufführen. Und als Beispiel wollte ich zwei ’rausgreifen: Opus 40 ist, glaube ich, dasjenige mit den Chamisso-Gedichten, oder 42, nein, ich glaub’ 42 ist die Frauenliebe, und 40 ist das mit den vier Chamisso-Gedichten, wo am Schluss doch dieses neue lyrische, heitere Gedicht nachgelegt wird.
Hier ist eine echte Dramaturgie erkennbar. Es geht los mit einem harmlosen Lied, heiter, verspielt, das schon auch mit einer kleinen Fragestellung am Schluss operiert, die nicht im Text vorhanden ist. Dann wird es immer schlimmer, es kommen Soldaten, es kommen – zuerst kommt eine Mutter, die ihr Kind an einen Ra- ben verlieren soll, dann kommt ein Soldat, der seinen Freund erschießen musste, ein Erschießungskommando, und dann kommt noch eine Hochzeit, wo der Bräutigam am Schluss seines Lebens noch auf der Hochzeit seiner Geliebten spielen muss, auf der Geige, aber er nicht mehr Bräutigam ist. Interessant ist ja, dass diese Klimax nicht den Soldaten als noch schlimmer empfindet, der seinen Freund erschießen muss, sondern dass der Liebende also die größere, die größte Qual zu erleiden hat. Es wird schlimmer und schlimmer. Es ist schier unerträglich und dann kommt dieses heitere Gedicht, auch heiter vertont.

CV: Was heißt denn diese Heiterkeit in diesem Moment?

ChG: Es ist eine Heiterkeit, die an sich nicht, nicht wirklich anzunehmen ist. Aber dieses Lied - es geht darum, dass zwei Liebende mit einem kleinen Schiff ’rumfahren, dass die Sterne die Liebe beider, die sie aber verheimlichen wollen, mitbekommen. Ein Stern fällt ins Wasser und sagt’s weiter, der Vater holt aus dem Wasser dann einen Fisch raus, der sagt’s ihm dann, auf einmal wissen’s alle Leute - also, wahnsinnig witzig und lustig, haha! Aber nach diesem ganzen Gemetzel – Gedanken- und Gefühlsgemetzel – ist das nicht mehr adäquat zu begreifen. Dass er so was macht, kann kein Zufall sein. Er hat ja keine Opera so veröffentlicht, wie Schubert es getan hat – ich glaube nicht, dass Schuberts Opera als solche aufgeführt werden sollen, das ist meine persönliche Meinung. Es gibt Wissenschaftler, die ganz anderes sagen. Aber ich glaube, hier handelt es sich um Ambitionen eines Komponisten, der mit besonders ausgereiften und mit effektvollen Liedern bekannt werden und vielleicht auch Geld verdienen wollte.
Bei Schumann ist es, glaube ich, ganz anders. Er möchte aus musikalischen Gedanken etwas entwickeln. Was, ist jetzt die Frage. Ich glaub’, persönlich für mich würd’ ich’s beantworten damit, dass ich sage, es ist seine eigene Identität, die überall durchscheint. Es gibt Komponisten, die scheinen in ihren Werken ihre Identität geradezu akribisch heraushalten zu wollen. Ich glaube, bei Bach könnte man das ohne großen Zweifel sagen. Es ist die Person Bachs, die im Begreifen seiner Werke nur eine kleine Rolle spielt.
Bei Schumann spielt sie eine große Rolle. Ich glaube, er ist der Hochromantiker, weil er sich in seiner Bedeutung seiner Werke nicht von seiner Eigenperson distanzieren kann. Und...

CV: Doppelexistenz in sich gespürt hat? Halb der Dichter, halb der Musiker.

ChG: Es kann vielleicht damit zusammenhängen, dass er sich hin- und her gerissen fühlte zwischen diesen beiden Polen seinesLebens. Diese Tatsache kann sogar ein erhöhtes, ein überhöhtes Bild, dieser, ja man könnte sagen, transzendentalen Bedeutung von Musik in seinem Leben sein. Ich möchte noch ein anderes Beispiel anfähren: Opus 90, auch ein Liederzyklus – verzeihen Sie, dass ich nur mit Liedern operiere. Hier ist es auch so, dass ein Gedicht am Schluss eingefügt wird. Es sind sechs Gedichte von Lenau. Und am Schluss wird ein Gedicht angefügt, das altkatholische Requiem von Abaelard und Heloise.
Was natürlich an sich schon am Ende eines Liederzyklus gar keine chronologisch, logistisch notwendige Sache ist. Also, gerade so ein Schluss zeigt, es handelt sich hier um eine gewisse Seelendramaturgie, ein Requiem hinzusetzen.
Das allein ist es noch nicht. Im ersten Lied, und damit möchte ich auch noch vielleicht darauf hinweisen, dass es nicht nur in seinen Werkszusammenstellungen zu sehen ist, dass er anderes noch wollte als nur musikalisch ein an sich formvollendetes Werk zu schaffen. Das ist auch innerhalb einzelner Liedern zu sehen, dass hier ein anderer Wille auftaucht. Und zwar jetzt das erste Lied aus Opus 90: „Lied eines Schmiedes“. Ein harmloses Lied aus Lenaus Faust. Es geht um ein Rößlein, das beschlagen werden soll und die vierte Musikstrophe wiederholt den Text der ersten Gedichtstrophe. Und auf einmal steht bei der 4. Strophe „piano zu singen“ – ja aber, warum denn? Es kann mit der Interpretation des Textes nichts mehr zu tun haben. Es geht hier auch nicht um – Entschuldigung, bin gleich fertig – es geht hier nicht darum, einen Text illustrativ adäquat darzustellen. Es geht darum, hier eine massive, wenn auch „nur“ durch ein Piano ausgelöste Verunsicherung im Hörer hervorzurufen. Auf einmal ist es nicht mehr dasselbe heitere Gebilde: „fein Rößlein“. Warum? Es ist, glaub’ ich, einen kleinen Vorgeschmack auf diese Aneinanderreihung von Seelenkatastrophen, die danach auftauchen, dem Zuhörer zu bieten.

Christian Gerhaher (©Rolf Obrecht)
Christian Gerhaher (©Rolf Obrecht)


CV:
Aber das ist ja auch im Grunde – Sie haben dieses, diesen Requiemschluss ja schon angesprochen. Das ist ja sozusagen auch bezeichnend für den späten Schumann, der ja auch anfängt, seinen Stil völlig umzustellen. Der viel karger komponiert, der diesen leichten überschwang, den er in den frühen Werken – mit Ausnahme übrigens der Klaviersonate, die wir gleich hören werden – sozusagen aufgegeben hat. Das passt ja sozusagen ins Bild. Wenn Sie das Zyklische ansprechen, dann müssen wir ja auch beispielsweise im Fall der Dichterliebe darüber sprechen, dass es zwei Fassungen gibt. Die eine besteht aus 16, die andere aus 20 Liedern. Das ist mehr oder weniger eingedampft worden nachher. Würden Sie sagen, dass dort auch ein zyklischer Charakter im Sinne des Schubert’schen Erbes vorhanden ist? Bei Schubert kann man ja sozusagen noch einen Handlungsfaden in den Liedern der großen Zyklen einsetzen.

ChG: Wo? Wo?

CV: Bei der Winterreise glaub’ ich...

ChG: Find’ ich nicht. Also diese Winterreise seh’ ich nicht so. Das ist kein chronologisches nachvollziehbares Opus.

CV: Nun, vielleicht nicht chronologisch, aber er zieht aus am Anfang und am Ende findet er einen Partner, von dem wir nicht wissen, wer es ist.

ChG: Er ist schon ausgezogen. Er ist schon...

CV: Er ist heimatlos.

ChG: Ich glaube nicht. Also, ich glaube, die Winterreise hat nichts fabulistisches, sie ist nur ein Aufzeigen von 24 Tableaus von Seelenzuständen.

CV: Dann wäre es ja wieder eine Verwandtschaft zu Schumann.

ChG: Ja. Bei Schumann gibt’s auch dies und das. Es gibt vielleicht – man könnte sagen, in der Frauenliebe und Leben wird nun tatsächlich eine Geschichte erzählt, wie sonst ganz wenig bei Schumann.
Und bei der Dichterliebe könnte man sagen, hier gibt’s ein bißchen mehr Erzählcharakter als bei der Winterreise. Aber das ist vergleichbar, meiner Ansicht nach: Seelenzustände – hier eines echt Liebenden.
Dort, bei der Winterreise, würd’ ich sagen, da geht es nicht um die Liebe, da geht’s um einen Menschen in einer Krise, der sich aber nicht zwischen Leben und Tod bewegt – aber es geht jetzt nicht um die Winterreise. Jedoch, um einen Unterschied zu machen, bei der Dichterliebe ist vielleicht tatsächlich ein kleiner Handlungsraum zu sehen.
Vor allem im letzten Lied wird es deutlich. Es wird hier retrospektiv eine Reise noch ’mal betrachtet. Im Nachspiel werden auch Themen aus vorhergehenden Liedblöcken noch einmal resömierend gehört. Da geht es tatsächlich um einen kleinen Zyklus. Allerdings mehr musikalisch zyklisch, nicht im Sinne der Schönen Müllerin. Und die Schöne Müllerin ist nun wirklich, dass muss man so sagen, sie ist eine Ausnahme! Man denkt immer, ein narrativer Liederzyklus ist etwas häufiges, aber es ist die totale Ausnahme. Das Lied ist etwas Lyrisches und die Schöne Müllerin hat stark epische Züge; ist also kein Prototyp eines Liederzyklus.

CV: Wenn wir von dem Zyklischen sprechen. Dann können wir ja auf das gesamte Liedschaffen Schumanns auch uns die Frage stellen, warum hat er so spät angefangen, Lieder zu komponieren. Da ja seine dichterische Affinität, literarische Neigung von Anfang an ausgeprägt war. Warum wartet dieser Mann so lange, um erstmals für die menschliche Stimme zu schreiben?

ChG: Das kann ich nicht sagen.

CV: Aber, Sie haben doch bestimmt einen Verdacht?

ChG: Also, vielleicht. Vielleicht ist es ja so, dass ihm die Textbezüge, die er auch mit seiner Klaviermusik, mit diesen ganzen Titeln, die er seinen Stücken gegeben hat, nicht nur den einzelnen Opera, sondern auch den einzelnen Stücken aus diesen Opera, dass er dort immer Textbezüge geschaffen hat, Bedeutungsbezüge eher, also sicherlich im Sinne einer Programmmusik – dass ihm das vielleicht erstmal genügte.
Aber ich würd’ eher interessant finden, dass später, als er dann endlich die Lieder komponierte, dass es ihm nicht drum ging – das ist meine Meinung -, die Gedichte adäquat zu behandeln. Nicht darum ging, sie zu illustrieren. Dass es ihm vielmehr, ob bewusst oder unbewusst, darum ging, diese Mehrdeutigkeit, die in der Vertonung dieser meistens oder fast immer wirklich qualitativ hochwertigen Texte, was ja auch zusammen mit Wolf eher eine Ausnahme darstellt, dass es ihm darum ging, die Mehrdeutigkeit, die in diesem Spannungsfeld Text – Musik zwangsläufig mehr oder weniger entsteht, dass er die an sich bestehen lässt. Und ich glaube, dass man das mit dem Begriff eines transzendentalen Charakters seiner Lieder umschreiben könnte.
Was die Lieder von Schubert oder Wolf tatsächlich versuchen, und bei Wolf ist es ja extrem, nämlich einen Text bis ins kleinste Detail adäquat musikalisch darzustellen, dass das hier nicht der Fall ist. Mein Eindruck, hier ist Kunst für Kunst sich selbst genug, als Kunst geschaffen worden, und bei Schumann geht es um einen anderen Rezeptionsweg.

CV: Ich nehme an, das ist aber vielleicht auch ein bißchen der Epoche geschuldet. In der Romantik geht es nur in anderer Form um Stimmung, als beispielsweise bei Hugo Wolf, wo sozusagen ein Naturalismus vor der Tür steht, wo man da auch diese Gedichte sozusagen hat.

ChG: Bei Brahms war das aber auch nicht der Fall!

CV: Ja, der Brahms ist als Liedkomponist ohnehin ein Sonderfall. Ja, so viel Volkstümliches wie bei Brahms finden Sie bei Schumann nirgendwo. Auch wenn er sich ein bisschen am Wunderhorn verdient hat.
Zum Schluss unseres Gespräches würde ich gerne nachdem wir soviel über den Liedkomponisten Schumann gesprochen haben, auch noch kurz über den Komponisten der Szenen aus Goethes „Faust“ sprechen. Es gibt kaum einen Sänger, der sich in den letzten Jahrzehnten zusammengerechnet, so stark gemacht hat für den Faust wie Sie in den letzten Jahren. Diese Szenen aus Goethes „Faust“ sind ja im Grunde ein seltsam – erst einmal zusammengestelltes – von ihm aber sehr bewusst so zusammengestelltes Werk, aber was stellt der Schumann mit diesem Faust an. Was ist das für Sie als Sänger, als Interpret, für eine Figur, die er aus dem Faust macht?

ChG: Es ist wahrscheinlich eine andere Figur, als Goethe sie gemeint hat und eine andere Figur, als die heutige Faust-Forschung sie gerne rezipiert haben möchte. Nämlich, sie ist eine positive Gestalt. Im Grunde könnte man schon sagen, Faust ist ja ein ziemlicher Verbrecher und ein Egomane und Egoist sondersgleichen. Ich glaube aber, dass es Schumann darum ging, Faust als einen..., – bei Faust das ewig Strebende als etwas – und das ist das entscheidende – Positives darzustellen.

CV: Das ewig Strebende auch als das des ewig Suchenden und insofern ein Spiegel um Schumann selber.

ChG: - bin ich schon der Meinung. Oder zumindest hat sie was Idolhaftes für ihn, diese Faust-Figur. Ich glaube, die perversen und verbrecherischen Züge Fausts, die es natürlich gibt, die auch Goethe klar als solche bezeichnet hat, beispielsweise nur allein in der Spiel-Anweisung, dass im 2. Teil, wenn er denn überhaupt aufgeführt würde, der Faust des 1. Teils den Mephisto spielen soll und der Mephisto des 1. Teils den Faust. Dass heißt, es ist ganz klar und eindeutig, dass diese beiden Figuren theoretisch aufeinander bezogen sind. Dass die eine die andere subsumiert, und dass durch die verbrecherischen Handlungen Mephistos, – die ja auch im 2. Teil üblich sind, man denke nur an das Verbrennen von Philemon und Baucis, dass die durch Faust letztendlich zu verantworten sind. Aber es gibt einige Stellen in diesem, na ja, nennen wir es Oratorium.

CV: Ja, das ist die Frage – da haben sich schon ganze Wissen- schaftlergenerationen den Kopf drüber zerbrochen.

ChG: Also, ich persönlich empfinde immer am nächsten den Begriff Vokalsinfonie, wie er dann später eben bei Mahler auftaucht. Ich empfinde überhaupt eine große Gemeinsamkeit zwischen diesen beiden Komponisten. Aber, egal, also in der Sterbeszene Fausts sagt Mephisto, als er nun endlich tot ist: „Es ist vollbracht“, und das ist natürlich eine blasphemisch-ironische Haltung, es wird ganz eindeutig das Johannes Evangelium zitiert, und er macht sich auch lustig über Faust und Jesus in einer Person. Also hier...

CV: Man beachte: Ironie.

ChG: Ja, das gibt’s... Und es folgt dann bei Goethe die Stimme des Chores, der aufgebracht entgegen schleudert: „Es ist vorbei“ und Schumann vertont den Text nicht so, sondern er lässt den Chor auch „Es ist vollbracht“ singen. Also, es ist hier eindeutig eine – wird von Schumann eine Apotheose Fausts propagiert, wie sie von Goethe nicht gemeint ist und, wie sie vielleicht auch irgendwo problematisch ist. Im Vergleich noch eine Szene: im 3. Teil des Oratoriums wiederholt sich diese überhöhung Fausts als Zielpunkt menschlichen Strebens, was bei Goethe viel weniger auf die Person Faust bezogen ist, sondern einfach auf die in einer pantheistischen Weltsicht zu erhöhenden Seelen – also, was mit dieser Entelechie am Ende passiert. Ich glaube, das war ihm da wichtiger als die Person Faust. Schumann selbst ist in dieser Szene die Person Faust noch sehr, sehr wichtig.

CV: Sofern ist das ja hier ein würdiger Ort. Denn wo kann man besser über Goethes Faust sprechen als in dieser Universität. Zu allerletzt, lieber Herr Gerhaher, wir haben jetzt sozusagen die Summe ihrer Schumann-Erfahrungen versucht zu besprechen, das nur ansatzweise bei der zur Verfügung stehenden Zeit. Aber lassen Sie uns zum Schluss noch ein bisschen noch teilhaben, wie sie das, was im Programm mit „Liebe zu Schumann“ umschrieben ist, wie Sie diese Liebe kennengelernt haben? Wo und wann, haben Sie diese Musik erstmals bewusst wahrgenommen und gesagt, diese Musik wird mich wahrscheinlich mein Leben lang nicht mehr loslassen?

ChG: Ich hatte eine Kassette, die ich leider nicht mehr hab’, und es gibt sie auch nicht als CD von der Deutschen Grammophon, wo, wie ich finde, einer der großartigsten Schumann-Pianisten, Christoph Eschenbach, ja, wo er ein paar von Schumann-Klavierstücken eingespielt hat. Da waren die Abbegg-Variationen, die ich göttlich finde, sein Opus 1 und dann die Kinderszenen natürlich und die Waldszenen...
Ach, die Waldszenen, ich komme immer wieder ins Schwärmen, wenn ich daran denke...Und dann war für mich klar, die Liebe zur klassischen Musik konnte ich da irgendwie fest machen und beginnen. Aber, dass Sie sagen, warum liebe ich Schumann. Also ich würde bei Mozart oder Bach sagen: Ich liebe die Musik Mozarts oder Bachs. Aber bei Schumann würde ich fast so weit gehen, gut ich bin... , ich schwärme für Schumann, und er ist mein Lieblingskomponist. Aber ich möchte noch einmal darauf zurückkommen, diese... , also ich würde ihn, auch wenn das vielleicht nicht legal ist, als Mensch und Sänger würde ich ihn bezeichnen als einen der ersten Konzeptkünstler, nicht einen distanzierten intellektuellen Konzeptkünstler, das natürlich nicht, sondern als einen, der die Musik als Möglichkeit der äußerung transzendiert, und zwar immer. Und nicht in einem vielleicht dann ethischen Sinn wie Mahler - der macht das auch, sondern in einem sehr persönlichen Sinn. Insofern würde ich sagen, er ist ein Hochromantiker oder er ist vielleicht der musikalische Romantiker, den es überhaupt gibt – schlechthin. Es ist frei von allen klassizistischen Tendenzen und er überschreitet jede Form-Tradition. Viele Schumann-Hasser sagen, aus Unvermögen. Ich glaube, aus „Nicht-anders-können“. Wenn man sich das Violinkonzert, was ich auch so besonders beeindruckend finde als Werk, wenn man den 1. Satz sich anhört, dann hat, also ich, dann habe ich immer das Gefühl, er versucht die Form zu erfüllen, er könnte es auch, sicher er kann’s auch. Er tritt absichtlich daneben und das ist kein Zufall, nur manchmal. Mich stört es nicht.

CV: Sie sind ja auch kein Geiger.

ChG: Ja aber, einen intelligenten Geiger sollte es auch nicht stören.
Aber das klingt – ich habe immer das Gefühl, hier schreitet dieses ganz persönliche Schicksal voran. Und er ist nicht fähig, und das finde ich so besonders sympathisch, er ist nicht fähig, eine hergebrachte Form, also beispielsweise eine Sonatenhauptsatzform, um ihrer selbst willen zu erfüllen. Vielleicht ist er nicht ’mal fähig, so wie das Joachim Kaiser sagen würde. Aber ich find’s dann gerade sympathisch und künstlerisch, dass er es nicht ist – wenn er’s nicht ist, was ich nicht glaube. Also, ich glaube, man kann die Person Schumanns – und es ist so eine besonders reichhaltige Figur, auch in ihrer Biographie - nicht aus seiner Musik wegdenken.

CV: Insofern haben Sie ja eben schon mit den einen Begriff geprägt, der Frau Dr. Bodsch in den Ohren klingeln dürfte: Robert Schumann ist der hochromantische Komponist schlechthin. Insofern glaube ich, gibt es keine bessere Gelegenheit ein Schumann-Forum sozusagen an dieser Stelle offiziell auf den Weg zu brin- gen.
Herr Gerhaher, ich sage ihnen herzlichen Dank. Und heute haben wir gesprochen über Schumann, morgen Abend wird er singen, und zwar Gustav Mahler, die zweite Liebe, dass darf man doch so sagen, oder?

ChG: Na ja, es gibt schon noch andere...

CV: Ja. Ja gut. Frauen sind jetzt mal ausgeklammert. Ganz herzlichen Dank für Ihre auch persönlichen Äußerungen zu Robert Schumann und man darf ja auch sagen „Gute Besserung“. Nämlich leicht lädiert sind Sie gekommen und deswegen doppelter Dank, dass Sie hier Rede und Antwort gestanden haben und dann auch morgen singen werden.

(Niederschrift des Gesprächs nach der DVD von Petra Sonntag, durchgesehen und lektoriert von Ingrid Bodsch und Christian Gerhaher)